Auf ein Wort
„Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“ – Johannes 13,35
Ich muss ehrlich gestehen, dass ich den oben genannten Bibelvers nicht mag. Das hat ein bisschen gedauert, bis ich mir das eingestehen konnte, und beim darüber nachdenken kam ich auf zwei Gründe, die zu diesen Gefühlen führten:
Zum einen: Die Aufforderung einander zu lieben, klingt erstmal einfach. Und trotzdem schaffen wir es in der Gemeinde nicht. Ich frage mich: Wenn das das Erkennungszeichen der Christenheit sein soll – warum sieht man davon so wenig?
Ich glaube, der wichtigste Grund ist: Wir sind so unterschiedlich! Und ganz ehrlich – wem würde es nicht leichter fallen, Leute zu lieben, die er natürlicherweise mag? Aber unsere Gemeinde ist ein „bunter Haufen“ – so steht es vor jedem Gottesdienst per Beamer an der Wand. Und sogar das nervt mich schon, dass wir uns so nennen, denn die Assoziation, die sich mir dabei aufdrängt, bezieht sich eher auf Hinterlassenschaften, denn auf Diversität und Gemeinschaft. Und wenn mir das schon aufstößt, wie geht es uns bei den wichtigen Themen und wo stoßen wir aneinander, wie der Abendmahlfeier oder Ältestenwahl?
Jesus hat sich Leute ausgesucht, die nicht so waren wie er. Und auch die Jünger waren unterschiedlich: Fischer, Zöllner, Kämpfer. Verschiedene Hintergründe, Arbeitsweisen, Prioritäten. Und trotzdem hat er ihnen diesen Satz gesagt. Gerade ihnen. Vielleicht ist das der Punkt: Diese Liebe ist kein „natürliches Mögen“, sondern eine Entscheidung – gegen meinen Stolz, gegen meine Abneigungen, gegen mein Bedürfnis, nur mit Gleichgesinnten zu leben.
Und wie oft gelingt uns das gerade nicht? Wie oft hört man eher Negatives im Dorf über uns, unsere Konflikte und den Streit? Das ist der zweite Grund, warum ich den Vers nicht mag: Weil wir es so selten schaffen ein positives Signal zu setzen. Stattdessen alles Mögliche darstellen, aber nicht unsere Zugehörigkeit zu Jesus durch unsere Liebe zueinander.
Und gerade deswegen braucht es diesen Vers. Und ich sollte ihn auch lieben lernen. Weil er uns an den Kern erinnert. Nicht an Struktur oder Ordnung. Nicht an Frömmigkeit oder Meinungen. Sondern an Liebe. Liebe, die mehr ist als Sympathie. Liebe, die sich zeigt, wo es schwierig wird. Liebe in der Gemeinde ist kein Nebenprodukt, das sich einstellt, wenn wir lange genug zusammen unterwegs sind. Sie ist der Weg, den Jesus selbst gegangen ist – vom Himmel herab, in die Unterschiedlichkeit und Zerrissenheit dieser Welt. Und er sagt: „Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ (Johannes 13,34 – der Vers davor!) Unsere Liebe ist nicht unsere Leistung – sie ist unsere Antwort. Auf seine Gnade. Auf sein Vorbild. Wenn wir es alleine nicht schaffen – gut. Dann dürfen wir ihn bitten, dass er uns seine Liebe gibt. Eine Liebe, die über Gräben hinwegträgt. Die aus einem „bunten Haufen“ eine echte Gemeinschaft macht.
Felix Wiegner
FeG-Präses zur Jahreslosung 2025
Prüfet alles und behaltet das Gute.
1. Thessalonicher 5,21
GRUNDSÄTZLICH OFFEN. FÜR GOTT.
Laut wissenschaftlichen Schätzungen trifft ein Mensch durchschnittlich etwa 20.000 bis 35.000 Entscheidungen pro Tag. Die Anzahl kann stark variieren, abhängig von individuellen Faktoren wie der Komplexität der täglichen Aufgaben, der Persönlichkeit und dem Lebensstil.
Die meisten dieser Entscheidungen sind unbewusst und betreffen alltägliche Dinge, wie z. B. die Wahl der Kleidung, was man isst oder wie man sich bewegt. Nur ein kleiner Teil der Entscheidungen erfordert bewusstes Nachdenken, etwa bei wichtigen beruflichen oder privaten Angelegenheiten.
Interessant ist, dass viele Entscheidungen auf emotionaler Ebene bereits gefallen sind, bevor wir bewusst darüber nachdenken. Das liegt daran, dass unser Gehirn emotionale und intuitive Prozesse häufig schneller durchführt als die rationalen Überlegungen. Dann braucht es einen bewussten Denkprozess, um sich selbst ggf. noch einmal umzustimmen und nicht nur Gründe für die schon gefundene Lieblingslösung zu sammeln.
GRUNDSÄTZLICHER KOMPASS
Die neue Jahreslosung ist ein bemerkenswert verlässlicher Kompass für solche Herausforderungen: „Prüfet alles und das Gute behaltet.“ So schreibt es der Apostel Paulus an die Gemeinde in Thessalonich. Am Ende seines Briefes verdichtet er wesentliche Erkenntnisse für die persönliche Nachfolge und den Gemeindeaufbau zu äußerlich unscheinbaren, aber hochwirksamen Sätzen. Der Vers des Jahres 2025 ist einer davon.
Ein meditatives Experiment dazu? Wie gehaltvoll die Worte sind, merkt man, wenn man ihnen durch Betonung Gewicht verleiht: Prüfet alles und das Gute behaltet. Prüfet alles und das Gute behalten. Prüfet alles und … usw. Wenn ich mich nicht täusche, schillert der Satz so in sechs verschiedenen Weisen. Für jeden Werktag der Woche eine eigene Perspektive!
Auch wenn jede Aufforderung des Paulus (5,14–24) gut für sich stehen könnte, ist es doch ratsam, den Zusammenhang im Auge zu behalten. Dort geht es nämlich nicht um eine allgemeine Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen. Was den Abschnitt zusammenhält, findet sich vielmehr am Ende: Gott, der Frieden schenkt, mache euch ganz und gar zu Heiligen. (Vers 23 | Basis Bibel). Ein starker Satz. So weit soll es also noch kommen mit uns!
Was für eine Aussicht, einmal ganz und gar heil zu sein, ganz und gar ungebrochen an Leib, Seele und Geist. Ein Mensch aus einem Guss vor Gott und für Gott. Das kann man nicht machen, das macht nur Gott. Geplanter Zieleinlauf: Bei der Wiederkunft Jesu.
Wesentlich für diesen Weg ist, was Paulus zuvor für ein Leben im Glauben empfiehlt: zum Beispiel ein dankbares Herz, eine Haltung des Gebets, Geduld für jedermann, Hilfe zu einem geregelten Leben und Ermutigung für die Ängstlichen. Dazu tritt die Jahreslosung mit ihren Begleitern (Verse 19–21), Verse, die die Bedeutung des Heiligen Geistes hervorheben. Er, Gottes Geist, ist Motor und Kompass auf dem anspruchsvollen Weg der Nachfolge. Wir brauchen ihn unbedingt! Es wäre fatal, ihn außen vor zu halten oder ihm allerhand andere Geisteshaltungen gleichzusetzen. Nein, sondern er braucht und verdient Raum in unserem Leben, und zwar konkurrenzlos.
Das also ist unsere Jahreslosung im Zusammenhang: Gottes Geist leitet, begabt, lehrt, tröstet, feuert an (Vers 19) und spricht das aktuelle Wort zur Lage (Vers 20). Das ist das Gute, das es festzuhalten gilt (Vers 21). Und sollte etwas aus einem anderen, schädlichen Geist heraus gesprochen oder angetrieben sein, sollten wir es lieber heute als morgen loslassen.
GRUNDSÄTZLICH OFFEN
Mich begeistert die grundsätzliche Offenheit des Paulus für Gottes Reden und Wirken mitten in unserem (Gemeinde-)Leben. Die Geistvergessenheit, die sich in Teilen des abendländischen Christentums breitgemacht hat, wäre ihm suspekt gewesen. Er fordert die Gemeinde in Thessalonich auf, den Heiligen Geist nur ja nicht zu hindern und einzuschränken. Dabei ist an die ganze Bandbreite seines im Neuen Testament bezeugten Wirkens gedacht. Und klar, dabei kann es auch zu Auswüchsen kommen: Menschen, die sich profilieren wollen; Aussagen, die dem Evangelium entgegenstehen; oder Einseitigkeiten, die dem Leben nicht gerecht werden.
Deshalb auch der Prüfauftrag. Nur – ein ängstliches Reproduzieren vermeintlicher Richtigkeiten, das wäre Paulus zu wenig gewesen. Das ist auch für einen Gemeindebund zu wenig, der eine geistliche Bewegung sein möchte und nicht nur ein Zweckverband. Es ist für jeden und jede von uns zu wenig, weil wir auf Jesus hinleben, weil das neue Leben mit ihm schon begonnen hat. Denn das zeigt sich in der vitalisierenden Anwesenheit von Gottes Geist.
GRUNDSÄTZLICH ALLE
Es gibt die besondere Begabung einzelner, ein prophetisches Wort zu sagen, besondere Erkenntnisse einzubringen oder die hohe Sensibilität, der Gemeinde Jesu auf ihrem Weg in die zukünftige Welt den Weg durch die jetzige zu weisen, das steht außer Frage. Und doch richtet sich Paulus an alle Christen, an die ganze Gemeinde: Sie ist aufgefordert und in der Lage, verantwortliche Entscheidungen zu treffen. Sie kann Aussagen und Wegweisungen geistlich bewerten und sollte das auch tun!
Gemeinde zu bauen ist keine Aufgabe für ein paar Spezialisten, sondern eine Berufung, die grundsätzlich allen gilt. Das Ziel dieses Prüfauftrags ist übrigens nicht, Veränderungen möglichst zu verhindern oder das berühmte Haar in jeder Suppe zu finden. Das Ziel ist auch nicht das Prüfen an sich, sondern das Gute zu behalten. Wir suchen gemeinsam das Gute, das aufbaut, weiterbaut, ausrichtet und trägt. Eine schöne Aufgabe für die ganze Gemeinde!
GRUNDSÄTZLICH UNVERZICHTBAR
Für Freie evangelische Gemeinden (FeG) gibt es einiges, das unverzichtbar zum Guten gehört:
- Die Liebe zu Jesus als unserem Herrn und Erlöser und Freund. Wie schrieb Hermann Heinrich Grafe, der Gründer der ersten FeG, einst: „Es gibt Christen, die wollen aus dem Glauben ein System machen; ich will lieber eine Herzensangelegenheit daraus machen.“ Ich finde das angemessen. Das spricht auch gar nicht gegen eine gute gedankliche Durchdringung. Aber was den Glauben angeht, meine ich: Man denkt nur mit dem Herzen gut.
- Ebenfalls unverzichtbar ist die feste Verankerung von Glauben, Lehre und Leben in der Bibel, in Gottes Wort. Sie ist der Maßstab, hier finden wir die Kriterien für das Gute, das wir festhalten wollen. Auch wenn uns das Ringen um die rechte Erkenntnis manchmal ganz schön fordert – es hält uns lebendig und wach. Die große Auslegungsgemeinschaft der Gemeinden ist mehr als Schwarmintelligenz. Sie ist eine geistliche Ressource.
- Zum unverzichtbar Guten gehört auch die Bereitschaft weiterzugehen. Neue Zeiten, neue Anforderungen. Das bedeutet auch Verlust, der betrauert werden muss und darf; und Veränderung, die anstrengend ist. Das geht nur dann gut, wenn klar ist, wofür das geschieht, nämlich: Um Gott zu ehren, der den Wechsel der Zeiten in seine Schöpfung gelegt hat.
GRUNDSÄTZLICH ZU MEIDEN
Im vergangenen Sommer habe ich das Jüdische Museum in Warschau besucht und war absolut beeindruckt! Ich gestehe, gerne hätte ich den Teil über das 20. Jahrhundert ausgespart: das jüdische Ghetto in Warschau, die Deportationen, die Vernichtung von etwa drei Millionen polnischen Juden. Natürlich habe ich mir nicht erlaubt, das auszulassen, und bin mir mehr denn je gewiss, wo die Grenze zum Bösen verläuft:
- Zum Beispiel dort, wo irgendein menschliches Leben für mehr wert gehalten wird als ein anderes. Völlig gleichgültig, woher ein Mensch kommt, wie er oder sie lebt, wie leistungsfähig oder hilfebedürftig jemand ist – jedem Menschen kommt die volle Würde eines von Gott geliebten Geschöpfes zu. Oder wo man dem Gedanken folgt, dass eine Gruppe von Menschen für alle Unannehmlichkeiten oder alles Unglück verantwortlich gemacht werden kann – auch da verläuft die Grenze zum Bösen. Das Sündenbockprinzip funktioniert erschreckend verlässlich, immer noch; vor allem immer dann, wenn der Wohlstand einer Gesellschaft abnimmt.
- Ich bin mir mehr denn je gewiss, dass keine Macht auf Erden absolut sein darf. Absolute Macht kommt allein Gott zu. Menschen müssen sich verantworten, müssen Macht teilen und regelmäßig an die Grenzen ihrer Wirksamkeit stoßen, um nicht sich und andere ins Unglück zu stürzen. Das bedeutet, dass Führung Autorität genießen, aber nicht autoritär sein darf; dass sich Christen niemals mit Haut und Haaren an eine Ideologie, einen Politikstil oder einen Verantwortungsträger hängen dürfen; dass man ein heiles Leben allein vom Heiland und nicht von Menschen erwarten kann.
Prüfet alles und das Gute behaltet. Diese Jahreslosung fordert uns grundsätzlich zu Offenheit auf. Wir sollen nicht bei dem bleiben, was unsere Erfahrungen, Emotionen und Mustererkennungen uns beinahe automatisiert vorgeben. Wo der Geist ist, da geschieht Neues und Unerwartetes. Dafür sollen wir offen sein, schreibt Paulus. Es ist aber keine Offenheit für alles Mögliche, sondern für das geistlich Gute – und das meint im Kern: für Gott selbst.
Henrik Otto | Präses des Bundes Freier evangelischer Gemeinden | praeses.feg.de